Gegen das Diktat der Angst

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Erklärung Eurer hausärztlichen Praxis zur Coronakrise

 

1. In unserer Praxis behandeln wir derzeit keine Grippewelle, sondern eine Welle aus Angst und Verunsicherung. Unsere Telefone klingeln ununterbrochen, unsere Emails sind voll von Anfragen von zum Teil verzweifelten Menschen, die wegen leichter Erkältungszeichen Angst vor einer vermeintlich tödlichen Krankheit haben. Unser Team ist überlastet. Wir alle sind ständig damit beschäftigt, zu entscheiden, wer einen Abstrich auf Sars-Cov2 bekommen muss. Für die Durchführung der Abstriche fehlen uns die Masken. Unser Wartezimmer ist relativ leer, die schwerkranken oder chronisch kranken Menschen trauen sich nicht mehr zur Behandlung.

 

2. Fachärzt*innen, Psychotherapeut*innen und Heilmittelerbringer*innen müssen ihre Untersuchungs- und Behandlungsangebote einschränken. Diagnostik zum Ausschluss von schweren Erkrankungen findet kaum noch statt. Ganze Krankenhausabteilungen und Reha-Kliniken werden geräumt, Patient*innen aus psychosomatischen, psychiatrischen und psychotherapeutischen Stationen, dem Suchtbereich sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden entlassen in eine ambulante Unterversorgung. Dringend notwendige Gespräche finden in den meisten Beratungsstellen nicht mehr statt. Es kommt zu einer massiven Versorgungseinschränkung im gesamten Hilfsapparat, deren Folgen bisher nicht absehbar sind.

 

3. Die Menschen, insbesondere Kinder und Ältere werden in ihren Wohnungen in der Großstadt durch die öffentlichen Empfehlungen und Vorschriften isoliert. Einschränkung der Bewegung, mangelndes Sonnenlicht und verminderte Zufuhr frischer Luft verschlechtern den Zustand des Immunsystems und erhöhen damit die Infektanfälligkeit, das ist seit Rudolf Virchow bekannt. Die Psycho-Neuro-Immunologie hat erforscht, dass Angst, Verunsicherung und soziale Isolation ebenfalls die Immunität beeinträchtigt. Eine Zunahme häuslicher Gewalt, von Alkohol-Missbrauch und Suiziden ist zu befürchten. Die gesundheitlichen und sozialen Folgen einer wochenlangen Isolation von Millionen von Menschen werden massiv sein.

 

4. Jedes Jahr gibt es Grippewellen unterschiedlichen Ausmaßes. Sie entstehen durch eine Vielzahl verschiedener, sich ständig verändernder Viren mit exponentieller Verbreitung. 2017/18 waren in der Grippesaison die Hausarztpraxen und Intensivstationen überfüllt, mehr als 25.000 Menschen sind in Deutschland grippeassoziiert gestorben. Dafür gab es keine Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, keine Großveranstaltung wurde abgesagt. Jetzt steht plötzlich ein einziges Virus im Fokus, von dem noch niemand genau sagen kann, ob es wirklich deutlich gefährlicher als andere Grippeviren ist. Eine Gesellschaft, die ängstlich und fixiert einen schmalen Ausschnitt einer möglichen Gefahr für das Leben Einzelner überwiegend virtuell und medial wahrnimmt und nur noch versucht, darüber Kontrolle zu erlangen, wird zwanghaft und krank. Der Preis für das Diktat der Angst ist die Unfreiheit.

 

5. Jeden Tag versuchen wir mit unserer ärztlichen Arbeit gesundheitliche Risiken zu minimieren, bestenfalls Krankheiten zu heilen. Schon die normale Versorgung von vulnerablen Gruppen stößt bei knappen Ressourcen an ihre Grenzen. Die winterliche Mehrbelastung durch Infekte überfordert jährlich die vorhandenen Kapazitäten im ambulanten und stationären Bereich. Durch Sparmaßnahmen und Ökonomisierung befinden sich die Gesundheitssysteme weltweit täglich im Ausnahmezustand. Eine verbesserte Ausstattung und Aufwertung medizinischer Berufe und Befreiung von wirtschaftlichen Zwängen sowie die Vorhaltung medizinischer Betreuungskapazität kann jeden Tag tausende Menschenleben retten.

 

6. Lasst uns endlich wieder unsere ganz normale hausärztliche Versorgung machen!

Wir fordern eine Rücknahme der das Gesundheitssystem beeinträchtigenden Maßnahmen!

Für die menschliche Gesundheit sind Bewegung und soziale Kontakte unverzichtbar.

Wir lehnen den aktuellen Eingriff in die Freiheitsgrundrechte als unverhältnismäßig ab! Menschen durch Verängstigung in die Isolation zu treiben ist inakzeptabel. Alte Menschen sollen selbst entscheiden, ob und wie sie am sozialen Leben teilnehmen wollen.

Wir brauchen eine offene Diskussion darüber, was für ein Leben wir führen wollen und wieviel uns ein gut funktionierendes Gesundheitssystem wert ist.

Gegen das Diktat der Angst, für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Vernunft!  

 

 

Berlin Kreuzberg, den 31.3.20

 

 

Die Kolleg*innen des MVZ praxiskollektiv reiche 121 e.G.